One of the seven mystery short-stories
from the book
Kristi Stassinopoulou
(Kastaniotis Publishers, Athens 1993)
German translation: Matthias Hardte
“Pelajiaaaa! Pelajiaaaaaaa!” schien der Wind die ganze Nacht hindurch zu rufen, während er über die spärlichen, ausgetrockneten Bäume, die vereinzelten Häuser, die verfallenen steinernen Pferche und rostige Traktoren hinwegblies. Er fuhr mit Gewalt die versteckten Schluchten hinab bis an die Küste der Insel, Tonnen gelben Sandes aufwirbelnd, und erreichte schließlich den Hafen. Dort packte er die weggeworfenen Konservendosen und leeren Mineralwasserflaschen aus Plastik und ließ sie in wildem Rhythmus mit blechernem Geschepper umherwirbeln. Im gleichen Rhythmus bewegte er auch die wenigen Straßenlaternen, so dass ihre trüben Lichtkegel und die Schatten, die sie warfen, in der Dunkelheit einen bizarren Tanz aufführten.
Es war vier Uhr morgens, noch vor dem ersten Tageslicht. Zu dieser Zeit, Ende September, waren die Tage bereits kürzer und die Zahl braungebrannter Touristen, die den Sommer über die Insel bevölkerten, weniger geworden. Und in dem Maß, wie die Stunden der Dunkelheit zunahmen, wurde auch der Himmel über der Insel schwerer von grau vorüberziehenden Wolken, erschienen die senkrechten Linien der dunkelbraunen Berge noch strenger, wie tiefe Falten im Gesicht einer alten Frau. Verlassen und verschmutzt erwarteten die Strände und Wege den Winter. Halb zerrissene Zelte, ausgebleicht und zerfranst, blieben der Wut des Windes überlassen, da sie jetzt nicht mehr gebraucht wurden die hellhäutigen Touristen zu schützen, die die Insel verließen wie treulose Bräutigame im Vergessen all ihrer Liebesschwüre.
Vier Uhr morgens also, die Lichter des letzten Septemberschiffes verschwanden langsam in der Ferne auf dem aufgewühlten Meer. Schwankend machten sich die drei Freunde auf den Weg. Das Warten auf das Schiff bis in die frühen Morgenstunden, immer in Gesellschaft ausländischer Freundinnen, die unter Tränen die Insel verließen, war jedes Mal eine Gelegenheit dem Alkohol zuzusprechen, und wenn das Schiff wie heute – wie meistens ¬Verspätung hatte, überschritten die genossenen Mengen schnell die Grenzen dessen, was sie vertrugen, auch wenn sie als junge Inselburschen ziemlich trinkfest waren. Angefangen hatten sie mit den Rakis und Ouzos der Großväter, später gingen sie in den Diskotheken und Bars am Strand zu Barcardi, Tequila und Whisky über, so dass sie immer im Training waren. Diese drei schleppten sich nun also lauthals lachend von der Mole auf die wenigen weißen Häuser des Hafenortes zu. Es gab nur wenig, das ihre andauernde ausgelassene, dumpfe Heiterkeit dämpfen konnte.
Sie waren bis zu einem gewissen Alter mit all den Vorrechten und Annehmlichkeiten des “Sohnes” aufgewachsen, der den Namen der Familie weitertragen würde. Besuch einer weiterführenden Schule in Piräus, der Vater zum Geld verdienen auf See, ein halb abgeschlossenes technisches Studium, ein wenig Herumreisen in Europa, meist zu Gast bei einer verliebten Deutschen – die im günstigsten Fall auch das Ticket bezahlte – und im Sommer Gelegenheitsjobs hier auf der Insel, in Bars oder Ouzokneipen, Fahrradvermietung oder Bootsverleih am Strand, auch ein wenig Mithelfen auf dem Grundstück der Familie. “Rooms, rooms, rooms” ohne sich viel dabei zu denken. Und zu diesem Leben gehörte wie das Salz in die Suppe das Witzereißen, das sich gegenseitig Aufziehen und sich Späße erlauben, wie eine Art Geheimsprache, die sie seit ihrer Kindheit wie eine Bruderschaft zusammenhielt. Es waren also drei Freunde aus demselben Dorf, derselben Schule, untereinander verschworen in ihrer Schlitzohrigkeit, die im Morgengrauen jenes Tages im September torkelnd von der Mole heraufkamen.
Der jüngste Spaß, den sie sich ausgedacht hatten, stellte allerdings alles bisher dagewesene in den Schatten. Dank seiner hatten sie sich Nächte hindurch halb totgelacht und waren zu vielen schnellen Affären gekommen. Dank dieses Spaßes hatten sie auch die schwierigsten Mädchen dazu gebracht, ihre Zelte und Schlafsäcke im Stich zu lassen und statt dessen in ihren Sicherheit versprechenden Armen zu nächtigen.
“Alle, aber auch alle beißen an!” rief Christos johlend. “Keine, keine einzige, die die Wahnsinnsgeschichte von Pelajia nicht geglaubt hat!”
“Pelajia! Pelajia!” schrie Thanos.
“Pelajia! Pelajia!” schrie Panajotis, und sie lachten so sehr, dass sie davon fast wieder nüchtern wurden.
Pelajia war in den frühen sechziger Jahren eines der glücklichen, mit guter Mitgift ausgestatteten Mädchen aus Langada, dem auf dem Hügel über dem Hafen thronenden Dorf, von wo aus man die Bucht in ihrer ganzen Schönheit bewundern konnte, die später von den Franzosen Le Grand Bleu getauft werden sollte. Derselbe gewundene Weg, der heute noch existiert – eine Stunde Gehzeit – verband auch damals Langada mit den spärlichen paar Häusern unten am Hafen. Elektrizität gab es damals auf der Insel noch nicht. Die großen Schiffe konnten nicht an der Mole anlegen; dort machten nur die Kaikia und kleinen Boote fest, die die schweren Kisten und vereinzelten Passagiere vom Schiff an Land brachten.
Die jungen Burschen träumten vom Auswandern nach Amerika oder Australien. Die Mädchen träumten von einer guten Partie, was bedeutete, dass sie später in Athen leben würden. Andernfalls, das wussten sie, stand ihr Schicksal bereits fest: Sie würden ihr Leben damit zubringen, Pferdeäpfel vor ihrer Tür wegzuputzen, Kinder zu gebären und in den engen weißen Gassen des Dorfes groß zu ziehen, und die einzigen Farbtupfer in ihrem Leben wären der Basilikumstock und die Topfblumen vor ihrem Fenster.
Pelajia hatte jedenfalls Glück gehabt. Ihre Familie war eine der reichsten auf der Insel und hatte dafür gesorgt, dass ihre Verlobung mit einem Mann erster Wahl eingefädelt wurde, für den in jener Zeit in ihren geheimsten Träumen viele Mädchen des Dorfes schwärmten. Alles, was Pelajia den ganzen Tag zu tun hatte, war ihre Brautausstattung zu besticken und darauf zu warten, dass Manolis sein letztes Studienjahr abschloss und den Militärdienst herumbrachte, um sie dann mit sich nach Athen zu nehmen, wo eine moderne Wohnung ihrer Liebe und später ihrer Familie ein Zuhause geben würde.
Im Frühjahr feierten sie Verlobung. Manolis blieb die Ferien über auf der Insel, damit sie sich besser kennen lernen konnten. Für Pelajia waren diese Sommermonate wie ein Märchen. Tagsüber machte er mit ihr Ausflüge auf die Felder seiner Familie oder sie fuhren mit dem Boot in der Bucht spazieren. Abends ging er mit ihr oft in die Kneipe, die zu besuchen zu jener Zeit fast ausschließlich den Männern und nur ganz wenigen Frauen vorbehalten war. Unten in Äjali hatte eine eigentümliche Entwicklung eingesetzt.
Es war in jenen Jahren, dass immer mehr ausländische Touristen mit seltsamer Kleidung und fremdartigen Sitten auf die Insel kamen. Sie trugen sackartige Gewänder und lange Haare, für die bis dahin weltabgeschiedenen Inselbewohner eine unbekannte und bedrohliche Erscheinung. Die jungen Burschen gingen immer öfter an die Strände hinunter, gefesselt vom Anblick der schlanken Körper, der Freizügigkeit und Ungezwungenheit jener fremden blonden Mädchen aus dem Norden.
Es war nicht Manolis’ Schuld und auch nicht die Pelajias, dass eine solche blonde Frau plötzlich zwischen sie trat, ihre so ehrbaren Pläne durcheinander warf und sie auseinander brachte. Manolis verschwand für immer von der Insel. Die Familien der beiden sprachen ab sofort jahrelang nicht mehr miteinander. Pelajia, entehrt und sitzen gelassen, überließ sich immer mehr ihrer Scham und Trauer und nach und nach verfiel sie dem Wahnsinn. Nachts wanderte sie phantasierend die Wege der Insel entlang. Mit nichts bekleidet als ihrem dünnen weißen Nachthemd lief sie durch die Kälte, das Haar aufgelöst und windzerzaust. Im Sommer trug sie ihre Zorn hinab ans Meer und versuchte dort die in ihr tobende Wut zu beruhigen, sie beschimpfte die Fremden mit so unsagbaren Beleidigungen, dass alle sich fragten, wo sie jemals solche Worte gehört hatte. Ihre Familie versuchte sie zur Vernunft zu bringen, indem sie sie im Haus einsperrten und sie schließlich sogar festbanden. Pelajia jedoch erschreckte die Dorfbewohner mit solch wüstem Geschrei, Beschimpfungen und Flüchen, dass bei ihren Eltern die Scham vor den Nachbarn größer wurde als die Sorge um ihre Tochter. So ließen sie sie frei, und von da an streifte sie wieder umher.
Niemand fand heraus, nachdem sie sie von der Wegbiegung abgestürzt neben der Quelle fanden, ob sie gesprungen oder gefallen war. Alle, außer ihrer Familie waren jedoch der Meinung, dass das Mädchen jetzt Ruhe gefunden habe, und sie beteten für ihre gequälte Seele.
Das ist also die traurige Geschichte der Pelajia aus Langada, die auf Amorgos jeder kennt, wobei die Älteren sich noch selbst an sie erinnern. Oft werden jedoch die Menschen aus Überdruss oder durch die täglichen Mühen hart und zynisch; und so schreckten etliche nicht davor zurück, den Namen Pelajias spöttisch in einer feixenden Gesprächsrunde zu erwähnen, wenn wieder einmal ein Bekannter sich mit seinen Eroberungen und Abenteuern mit dem anderen Geschlecht aus anderen Ländern groß tat.
So hatte auch der Spaß der drei Burschen aus unserer Geschichte ihren Anfang genommen. Ein Spaß, der diesen Sommer zu ihrer hauptsächlichen und fast ausschließlichen Beschäftigung geworden war. Wie viele Touristinnen, aber auch Griechinnen, verließen die Insel wie verzaubert, ihre Gedanken voll nicht nur von der wahren Geschichte, sondern auch all dem dazu Gesponnenen, mit dem die drei Freunde sie immer weiter ausschmückten. Wie viele Nächte saßen die drei nicht bis zum Morgengrauen in der Bar, die keine Sperrstunde kannte, oder an den leeren Tischen vor dem großen Cafe, bis es morgens aufmachte, und erzählten die schreckliche Geschichte der Pelajia, wobei ihre Fantasie immer mehr dazu erfand. Und wenn der Wind wehte, so wie heute nacht, oder in den mondlosen Nächten veranstalteten sie Spaziergänge die Bergpfade hinauf – ohne Taschenlampen – bis zu jener Wegbiegung nahe der Quelle, wo, wie man erzählte, jene furchterregende, bleiche und hagere Gestalt erschien und die Vorübergehenden, vor allem die Mädchen, mit brutalen und schamlosen Flüchen erschreckte, die in einem nicht abreißenden Schwall aus ihr hervorbrachten, mit einer Stimme wie man sie höchstens aus den schlimmsten Alpträumen kannte.
Es brauchte nur ein wenig Lektüre der Bücher von Orora, die diesen Sommer auf der Insel herumgingen und im Leinenbeutel jedes zweiten Touristen zu finden waren, oder von Zeitschriften, die angeblich den Zugang zum Zweiten Gesicht öffneten, und deren Auflage seit kurzem deutlich zunahm, ein wenig bewusstseinserweiternden Rauch oder eine Vorgeschichte mit Drogen, der vielleicht schon ein paar Gehirnzellen zum Opfer gefallen waren, und der Geist der Opfer der drei Freunde war nicht nur bereit zu glauben, was diese erzählten, sondern auch eine derartige Erfahrung selbst zu erleben.
Andere stiegen im Morgengrauen enttäuscht zurück hinab ans Meer, da sie erkannt hatten, dass sie nicht zu der auserwählten Schar der “Empfänglichen” gehörten, die die Gabe haben, Botschaften aus anderen Welten – ob schön oder schrecklich – wahrzunehmen. So beschränkten sie sich im weiteren auf den irdischen Genuss der Gesellschaft der jungen Burschen, die sie von da an entweder als – durchaus romantische – Phantasten ansahen, oder von denen sie annahmen, dass sie schon viel “weiter” seien als sie selbst, auch wenn sie nicht mit gleicher Hingabe die überall gepriesenen mystizistischen Blättchen oder die Bücher der Feuerwelt verschlungen hatten.
Es gab auch viele, die sich von diesem Zeitpunkt an nachts fürchteten, wenn sie den letzten Bus nach Langada verpasst hatten und gezwungenermaßen in einem geliehenen Schlafsack am Strand, nach der Sperrstunde hinter der Bar oder auf der Terrasse der Diskothek übernachteten, für gewöhnlich dann meistens in den Armen just eines jener drei Burschen, die für ihre Angst verantwortlich waren.
Die Geschichte der Pelajia war also nicht nur zum Lachen gut, sondern auch für andere Dinge. Daher dauerte es nicht lange, bis sie zum gemeinsamen Geheimnis der Mehrheit der Inselburschen wurde.
“Wir werden den ganzen Winter was zum erzählen haben!” freute sich Thanos.
“Warte erst mal, wie viele Winter Nancy davon erzählt!” Christos konnte sich kaum noch halten. “He, Panajotis, mach deinen Laden auf, dann können wir beim Raufgehen noch ein Bier trinken.”
Der Namen Nancy brachte neues Gelächter, während Panajotis noch mal für eine letzte Runde Bier die Bar aufschloss.
“Bei ihr hast du es aber wirklich übertrieben, dich mit dem weißen Laken vor sie hinzustellen! ”
“Genau, und hinter dem Baum fängt Thanos an zu rufen: ‘Huuuh, huuuh, huuuh!’ Das Mädel ist fast übergeschnappt. ”
“Die kommt bestimmt nicht wieder…”
“Auch egal, dafür kommen andere, und dann wieder andere, aaaaandere! Der Nordwind soll heulen, und wir lassen’s uns gut gehen, und die Pelajia immer mit dabei!”
“Genau, die Palajia! Pelajia! Pelajiaaaa! Heilige der Meere, wo bist du?” rief Christos und tanzte mit ekstatisch hoch erhobener Bierdose schwankend umher.
“Pelajiaaa, Pelajiaaa, die Heilige von hiaaa!” sangen die anderen bei den unter Gelächter, während sie Langada entgegenstiegen.
Sie hatten die letzten Dosen Bier fast ausgetrunken, gleich würden sie sie zu den Tausenden anderer werfen, deren blechernes Geschepper eins wurde mit dem Rhythmus des Windes, der weiterhin wie verrückt blies.
Es hatte wohl abgekühlt, schließlich war es auch schon Ende September. Jene eisige Kälte jedoch, die Christos plötzlich spürte, hatte nichts Natürliches. Es war wie der Schauder einer unnatürlichen Berührung, den er zuerst im Gesicht, dann am ganzen Körper fühlte. Er wich erschrocken zurück und bemerkte in diesem Moment, dass seine Freunde dasselbe spürten. Was geschah da? Sie standen bewegungslos wie Steinfiguren. Die Fingerspitzen ihrer erhobenen Hände hielten noch die kalten Blechdosen, die Beine schief erstarrt im schwankenden Gang. Für eine Sekunde, die ihnen wie ein Jahrhundert vorkam, lauschten sie aufgeregt. Der Wind rief einen Namen: “Pelajiaaa… Pelajiaaa…” und der kalte Hauch, der sie einhüllte kam geradewegs aus der Quelle vor ihnen.
Waren sie schon so weit gegangen? Waren sie in ihrem Suff so schnell bis an die Wegbiegung gelangt? Hierher, an die Quelle Pelajias? Und der Wind und der unsichtbare kalte Hauch zeigte ihre Ankunft an?
Sie konnten kein Wort zueinander sprechen. Sie konnten auch die schreckliche, stolze, hagere, weiße Gestalt nicht genau erkennen, die sich wie eine Erinnye vor ihnen aufbaute. Ihre Hände erstarrten vor Grauen, genauso ihre Beine. Und wie sie schließlich schreckerfüllt den Weg wieder hinabstürzten, konnten sie nicht wirklich ausmachen, ob die seltsamen Geräusche, die sie wie in einem Alptraum verfolgten, ein Schwall von hemmungslosen Flüchen, Schreien, Silben einer vergessenen Sprache waren oder nur der Lärm der Bierdosen, die über die ausgetretenen Steine des Pfades hinter ihnen her rollten.